Einigungsvertrag

Die 25-Jahr-Feiern der Wiedervereinigung stehen bevor, und immer wieder ist jetzt davon die Rede, die DDR sei der Bundesrepublik beigetreten. Diese Redeweise hat sich etabliert, und sie ist auch nicht ganz falsch. Wenn man genau hinschaut, ist sie aber auch nicht ganz richtig. Noch genauer: Es ist gar nicht so leicht festzustellen, ob sie wirklich zutrifft. Zugegeben: Es gibt Wichtigeres; aber die innere Widersprüchlichkeit der Frage, wer eigentlich wem beigetreten ist, wirft ein grelles Licht auf die Geschwindigkeit der Ereignisse im Jahre 1990. Eine Anthologie voller Gedichte über Thüringen gibt Anlass zum Rückblick.

Bevor wir uns den technischen Fragen widmen, hier ein kleines Gedankenexperiment: Wenn Sie einem Verein beitreten, hören Sie dann selbst auf zu existieren? Sicher werden Sie jetzt mit Nein antworten. Die Sache mit dem “Beitritt der DDR” kann also so simpel nicht sein.

Geregelt wurde die Wiedervereinigung über den Einigungsvertrag. Dort steht jene Formulierung, die in ihrer mangelnden Stringenz den Kern des Problems beinhaltet: “Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 werden die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland.”

Dieser Vertrag wurde am 31. August 1990 von Wolfgang Schäuble, dem damaligen Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, und DDR-Staatssekretär Günther Krause, dem Chefunterhändler der Ost-Seite, unterzeichnet. Nun gab es jene fünf Länder, die zu Ländern der Bundesrepublik Deutschland werden sollten, zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung allerdings noch gar nicht. Laut dem von der DDR-Volkskammer verabschiedeten Ländereinführungsgesetz vom 22. Juli 1990 sollten die fünf neuen Länder mit dem 14. Oktober 1990 gebildet werden.

In einem Anhang verschob der Einigungsvertrag dieses Datum auf den 3. Oktober. Die oben schon zitierte Formulierung ist aber trotzdem unklar. Wie kann etwas in der Bundesrepublik ankommen, das, als es sich sozusagen auf den Weg in die Bundesrepublik machte, noch nicht bestand? Die Zauberlösung: Eine “juristische Sekunde” vor dem 3. Oktober waren die Länder plötzlich da — so kurz vorher, dass es sie in der DDR nie gab, aber immerhin so weit vorher, dass sie der Bundesrepublik beitreten konnten. Es ist ein bisschen wie bei dem Tiger und dem Bettvorleger: Als DDR gesprungen, als fünf neue Länder gelandet.

Deshalb feiern wir am 3. Oktober fünf Ländergeburtstage.

Eines davon ist Thüringen, und diesem Land widmet sich eine schöne Gedichtsammlung, die kürzlich erschienen ist. Thüringen im Licht versammelt Gedichte von Gegenwartsautoren, die sich mit Städten und Dörfern des Landes befassen. Die Herausgeber Nancy Hünger und Ron Winkler haben einen spannenden Band zusammengestellt, der, auch wenn sie das bestreiten, schon so etwas wie ein kleiner sprachlicher Reiseführer ist, aber natürlich auch ein Geschichtsbuch, ein Archiv und ein poetischer Augenöffner. Ich habe gern ein Gedicht über Jena und eines über das Weimarer Nietzsche-Haus beigetragen.