Ernst Jünger und das Fliegen — das ist ein großes Thema. Das Fliegen beschäftigte den Krieger, Autor und Entomologen Jünger ein Leben lang. 1917 meldete er sich – vergebens – zu den Luftstreitkräften. In der Weimarer Republik entwickelte er in einer Reihe von Essays das Bild des Luftkriegers, der die mobilisierte Welt der Arbeit und der globalen Bürgerkriege verkörperte. Die Perspektive aus großer Höhe wurde zu einem wesentlichen Bestandteil des „stereoskopischen“ Blicks, dessen Urheber zugleich distanziert und involviert ist. 1928 gab Jünger den großformatigen, reich bebilderten, zweieinhalb Kilogramm schweren Band Luftfahrt ist not! heraus, dessen 39 Essays sich vor allem mit technischen Facetten des Fliegens beschäftigten. Im Zweiten Weltkrieg erlebte er die Zerstörung großer Flächen durch das Bombardement aus der Luft. Nach 1945 zieht er sich in eine verkehrsarme Region, die Schwäbische Alb, zurück; zugleich wird er als reisender Autor zur globalen Präsenz, und das heißt schon früh: zum Vielflieger.

Ernst Jüngers Einstellung zur Flugreise habe ich auf dem „interdisziplinären Kolloquium zur Wahrnehmung des Fliegens in Literatur, Film, Kunst, Architektur und Musik“ in einem Vortrag untersucht. Das Kolloquium stand unter dem Titel „Die Phänomenologie der Flugreise“ und wurde von Jan Röhnert (TU Braunschweig) und Joachim Block (DLR) geleitet.

Da es mir um das Reisen per Flugzeug und nicht allgemein um das Fliegen ging, konzentrierte ich mich auf dasjenige Werk, in dem Jünger am häufigsten fliegt: das Tagebuchwerk Siebzig verweht über die Jahre 1965 bis 1996. Das Fliegen hat, so lässt sich aus Siebzig verweht schließen, Jüngers Meinung nach ähnliche Auswirkungen auf den menschlichen Alltag wie der Autoverkehr sie bereits hat und wie sie die bemannte Raumfahrt einmal haben wird. Dazu gehört die technische Beschleunigung, die Vernutzung von Ressourcen und die Verfügbarmachung von Welt, aber auch die Schaffung neuer, ruhiger und anregender Beobachtungspositionen.

In Braunschweig habe ich Jüngers Auseinandersetzung mit Flugreisen untersucht, indem ich folgende Hypothese geprüft habe: Ernst Jüngers Haltung gegenüber dem Fliegen ist ambivalent, und zwar weil er es in drei sehr unterschiedliche Kontexte einordnet, die er in einem Spannungsverhältnis zueinander sieht. Ich habe sie mit den Stichworten ‚Technik‘, ‚Autorschaft‘ und ‚Erde‘ benannt.  

Jüngers Ambivalenz und die Einordnung der Flugreise in drei Kontexte lässt sich paradigmatisch am Tagebucheintrag vom 18. März 1979 ablesen. Er trägt die Ortsangabe „Im Flugzeug“. Jünger befindet sich auf der Rückreise aus Liberia.

„Hoch über der Sahara. Der weiße Kumulusteppich ist vom Wüstenstaub rötlich gefärbt. Ich blicke aus dem Fenster, lese einen Vergleich zwischen Spengler und Toynbee, trage Tagebuchnotizen nach, genehmige mir einen Schluck Moët-Chandon mit Albert Hofmann und Alexander und zwischendurch einen Film über den phantastischen Flug der Schneegänse von der Hudsonbay bis zum Golf von Mexiko.

Was mir bei dieser Häufung merkwürdiger Situationen und Tätigkeiten am merkwürdigsten vorkommt: die Selbstverständlichkeit, mit der ich sie wahrnehme und ausübe. Ich kann den Verdacht, daß Traumhaftes einspielt, nicht abweisen.

Vielleicht ist ‚traumhaft‘ nicht ganz zutreffend. Eher schon: Teilnahme an einer determinierten Entwicklung oder an den Eskalationen eines Kollektiv-Gehirns. Auf alle Fälle unheimlich, weil völlig Unberechenbares ‚eintreten‘ kann. An der Determination sollte man festhalten, sie bleibt sogar die letzte Hoffnung noch.“

Der erste Absatz enthält eine kurze Positionsangabe, eine kaum längere Beschreibung der Aussicht aus dem Flugzeugfenster und sodann eine Liste von fünf Handlungen, die Jünger im Flugzeug verrichtet. Dieses Handlungsinventar wird einer Reflexion unterzogen, die in eine Beteuerung mündet. Dass eine solche nötig ist, liegt sicher an der beträchtlichen Unsicherheit der vorangegangenen Reflexion. Ausdrücke wie ‚Verdacht‘, ‚vielleicht‘, ‚nicht ganz‘ und ‚eher schon‘ drücken Unsicherheit aus, und außerdem die Kaskade von Worten, mit denen Jünger seine Eindrücke zu fassen versucht: ‚merkwürdig‘, ‚selbstverständlich‘, ‚traumhaft‘, ‚determiniert‘, ‚unheimlich‘, ‚unberechenbar‘.

Im Kontext der knapp zweihundert weiteren Bemerkungen über den Menschen im Flug, die sich in Siebzig verweht auffinden lassen, wird eine systematische Analyse dieses Tagebucheintrags möglich. ‚Selbstverständlich‘, ‚merkwürdig‘ und ‚determiniert‘ habe ich den Bereichen ‚Technik‘, ‚Autorschaft‘ und ‚Erde‘ zugeordnet.

Diese Arbeit über Ernst Jünger und das Fliegen wird in dem Sammelband erscheinen, der aus dem Kolloquium hervorgehen soll. Mein Kernargumet ist – vorläufig – in Form einer Grafik dargestellt. Bis dahin (und auch danach) stehe ich für Fragen zum Thema gern zur Verfügung – benutzen Sie einfach das Kontaktfeld.