Vor anderthalb Jahren lud mich Anton G. Leitner ein, Dichterbriefe zu schreiben – jeden Monat einen Brief an einen Freund, dessen Lyrikband ich gerade gelesen habe. Das hat mich schon deshalb gereizt, weil meine Antwort auf die Klage, kein Mensch lese mehr Gedichte, stets die Aufforderung ist, sie wenigstens mit den eigenen Freunden zu lesen. Warum nicht mit denen anfangen, die einem am wichtigsten sind? Warum für Menschen schreiben, die man gar nicht kennt? Naja, das geht schon, aber warum diejenigen überspringen, denen man am nächsten steht? Wenn Gedichte eine besonders vertraute, vielleicht sogar intime Form der Kommunikation sind, dann sollten sie sich doch für den Austausch mit denen am besten eignen, denen man wirklich vertraut.

Und, ja, Gedichte sind Kommunikation. Wenn sie sich der Kommunikation verweigern, dann tun sie auch das in einer Kommunikationssituation. Wer ein Gedicht liest, erwartet, dass er angesprochen wird und dass ihm etwas gesagt wird. Es ist schon ziemlich traurig, wenn das nicht mehr selbstverständlich sein sollte. Und wenn aber Gedichte Kommunikation sind, kann man auch über sie reden. Sie sollen nicht in den Hintergrund treten, aber das Gespräch, das sie angestoßen haben, sollte sich doch fortsetzen lassen. Was für ein Gespräch wäre es sonst? Und was für einen „Gesprächspartner“ hätten wir sonst vor uns?

Es stellte sich heraus, dass es gar nicht so einfach ist, Dichterbriefe zu schreiben. Einen ganzen Band in ein paar hundert Wörtern behandeln? Ist das nicht einfach eine Rezension? Wo bleibt dann der persönliche Ton? Und einen persönlichen Brief schreiben und ihn dann ins Internet stellen, ist das nicht einfach eitel?

Zwei Dinge habe ich im Lauf der vergangenen anderthalb Jahre gelernt. Erstens, dass es leichter ist, über ein einzelnes Gedicht zu schreiben als über einen ganzen Band. Und oft sind mir auch einzelne Gedichte besonders im Gedächtnis geblieben. Das gilt für die großen Toten – Tranströmers „Schubertiana“, Stefan Georges „Geheimes Deutschland“, Edgar Bowers’ „The Astronomers of Mont Blanc“ – wie eben auch für meine Freunde: Thomas Böhmes „In den Anfängen des Gedichts“, Dick Davis’ „Ibn Battuta“, Joshua Mehigans „Work Song“. Ein Gedicht braucht Zeit, ein Brief hat nur begrenzte Zeit, ein Gespräch mit dem Freund braucht einen Gegenstand, also liegt es nahe, sich auf ein deutlich abgeschlossenes Werk zu konzentrieren.

Und das zweite ist, dass die Verbindung zwischen Freundschaft und Politik (über die ich irgendwie ein ganzes Buch geschrieben habe) in diesen bewegten Zeiten wirklich eine Herausforderung darstellt. Der britische Außenminister versucht sich als Poet, eine Art Böhmermann für Reiche, und die Frage, was wahr ist und was Fakten sind und was die Wirklichkeit ist und was Vision und was Lüge, was falsches Versprechen und was echte Hoffnung – das ist eine altes Thema der Lyrik, das sie jetzt von unerwarteter Seite einholt. Wir sollten uns ihm stellen. Im Gespräch mit Freunden, in der Lektüre von Gedichten und im Austausch mit Menschen, die nicht so denken wie wir selbst.

Übrigens hat nur ein Dichterfreund seinen Dichterbrief auf der Webseite von dasgedichtblog.de auch beantwortet – wer war’s? Hier die Liste der Möglichkeiten:

Oktober 2015: Harry Oberländer
November 2015: Jürgen Egyptien
Dezember 2015: Joshua Mehigan
Januar 2016: Manuel R. Goldschmidt
Februar 2016: Werner Söllner
März 2016: Lee Jing-Jing
April 2016: Ron Winkler
Mai 2016: Klagelied
Juni 2016: Matthias Politycki
Juli 2016: Thomas Böhme
August 2016: Boris Johnson
September 2016: Anton G. Leitner
Oktober 2016: Klaus Anders
November 2016: Ian Watson
Dezember 2016: Robert B. Shaw
Januar 2017: Ist die Lyrik postfaktisch?
Februar 2017: Paulus Böhmer
März 2017: Dick Davis
April 2017: Joshua Mehigan