Der Filmemacher Reinhard Kahl war mit einem Filmteam Teil der Deutschen Schülerakademie Braunschweig 2017-2. Sein Ziel: festzustellen, was die besondere Atmosphäre dieser Bildungsinstitution ausmacht. Denn es ist doch höchst erstaunlich, dass einhundert Schülerinnen und Schüler freiwillig zweieinhalb Wochen ihrer Sommerferien damit verbringen, sechs Stunden täglich im Klassenzimmer zu sitzen, und dass sie davon so bewegt sind, dass am Ende die Tränen fließen und eigentlich keiner weg will.

Sehr schnell kam Reinhard zu Bewusstsein, dass die Zeit auf der Akademie anders verläuft als in der Welt draußen. Der aufmerksame Leser von Thomas Manns Roman Der Zauberberg hat davon eine Ahnung. Aber wie sieht das genau aus? Vergeht die Zeit schneller, wenn jede Sekunde mit beglückenden Tätigkeiten und Erfahrungen gefüllt ist? Oder vergeht sie umso langsamer, weil eben jeder Augenblick ausgekostet wird?

Diese Fragen stellte Reinhard Kahl im Laufe der Akademie immer wieder. Ich fürchte, weder wir Kursleiter noch die Teilnehmer hatten eine erschöpfende Antwort parat. Wenn doch, würde mich das interessieren. Ich will hier versuchen, einige Beobachtungen von der Akademie in zeittheoretische Überlegungen einzubinden. Hoch wissenschaftlich!

Die erste stammt sozusagen von der Peripherie. Wenige hundert Meter von dem Schulgelände entfernt, auf dem die Akademie stattfindet, befindet sich ein Edeka. Spät nachmittags am zweiten Akademietag gingen wir dorthin, und die Verkäuferin wünschte uns ein „schönes Wochenende“. Die Formulierung schien uns völlig absurd. Wochenende? Wovon redet die Frau? Was ist „Wochenende“? Wir waren schon völlig in den Rhythmus der Akademie eingetaucht, der mit bürgerlichen Wochentagen wenig gemein hatte, sondern zwischen Kursschienen und kursübergreifenden Aktivitäten wechselt, eingefasst von Mahlzeiten und allenfalls ausgezeichnet durch ein Pulsieren zwischen hohen und sehr hohen Interaktionslevels.

Mit Karen Gloy kann man sagen, dass „Kultur“ (also westlich-moderne Vorstellungen von der Abfolge von Wochentagen und Wochenende) und unsere augenblickliche „Disposition“ so unterschiedlich waren, dass verschiedene Anforderungen an die „Situation“ (des Abschieds, der Voraussicht auf den folgenden Tag) miteinander in Konflikt gerieten.

Die neue Situation

Aber stop! Eigentlich beginnt die besondere Zeiterfahrung der Deutschen Schülerakademie noch viel früher. Einige Tage vor Beginn der Akademie rief ich meinen Kursleiterkollegen Jens an und fragte: „Und, Jens, freuste Dich schon, dass es nächste Woche wieder losgeht?“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Noch 92 Stunden!“

Am gleichen Tag erhielt ich eine E-Mail von Fabian, mit dem zusammen ich den Salat am Vorabend des offiziellen Akademiebeginns zubereiten sollte, für die Vorbesprechung der Akademie- und Kursleitung. Fabian fragte, was genau denn rein solle. Zwiebeln, Tomaten, wie sieht es mit Öl aus? Normalerweise würde ich mich total aufregen, dass mir jemand Tage vor dem entsprechenden Abend eine Mail in meinen hektischen Arbeitsalltag hinein schreibt und solche Fragen stellt. Aber es geht um die DSA, und so denke ich: „O Gott, ja! Das ist voll wichtig! Zwiebeln und so, Vinaigrette, das müssen wir organisieren!“

Vorfreude ist ein Zeitgefühl — eine bestimmte Gestimmtheit der Zeit. Die Disposition der Kursleiter ermöglicht es ihnen, eine Situation in einer bestimmten Weise aufzufassen und den Zeitablauf bewusst wahrzunehmen. „92 Stunden“ sind eine Chiffre für „ganz kurz und trotzdem noch schmerzhaft weit entfernt“ – die Zahl hat also eine qualitative Bedeutung. Vor ihrem Hintergrund erscheint die an sich banale Situation des Lebensmitteleinkaufs ebenfalls bedeutsam. Der „Inhalt“ der Zeit – als geplanter und zu realisierender – „stimmt“ die Zeit.

Höchste Zeit also, dass wir uns Karen Gloys Zeitphilosophie einmal vor Augen führen. Das abstrakte Schema stammt von mir, und ich hoffe, dass ich das komplexe Denken der emeritierten Philosophin nicht allzu sehr vereinfache. Die drei oberen Kreise zeigen Faktoren, die das Zeitempfinden des Einzelnen ohnehin prägen: seine Zugehörigkeit zu einer „Kultur“, also einer innerhalb einer größeren Gruppe von Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg etablierten Vorstellung von Zeit; seine grundlegende Einstellung; und seine aktuelle Verfassung. Die Situation, in der er sich befindet, wird auch durch viele andere Faktoren geprägt, die seiner Kontrolle weitgehend entzogen sind. Was sich ihm als zu Tuendes, als Wahrzunehmendes darbietet und was er für sich als solches anerkennt, ist der „Inhalt“ einer als solcher in den Blick genommenen Zeit. 

Schöne Zeit vergeht schneller

Neue Inhalte

Das Eintauchen in die Akademiezeit bedeutet, dass in der stimmbaren Zeit neue „Inhalte“ auf Teilnehmer und Kursleiter zukommen. Ich bin völlig gebannt davon. Ständig etwas tun. Ständig Gesichter, freundliche, offene, neugierige. Ich vergesse, wie jedes Jahr, meine Familie. Ich vergesse, dass ich da draußen Freunde habe. Geht sicher jedem so. Jens, verschmitzt lächelnd: „Ich vergesse, dass ich keine Freunde habe.“

Schwer zu beschreiben, woran das liegt. Zumal wenn man nach einigen Tagen so müde ist, dass man ständig irgendwo Sachen liegen lässt oder gegen etwas stößt oder über etwas stolpert oder nur noch kalauern kann. In dieser tranceartigen Stimmung sagt Fabian sehr ernst und mit der Konzentration des wirklich großen Philosophen: „Das mit der Zeit ist total eigenartig hier. Alles geht ineinander über … Es wird Nacht, und dann wird es Tag.“

Das ist jedenfalls nicht grundsätzlich falsch. Danke, Fabian!

Handlungszeit

Akademie bedeutet: neue Handlungsformen. Zeitvorstellungen und Zeitempfinden haben ganz entscheidend mit dem menschlichen, individuellen Handeln zu tun. Gerade in der beschleunigten, von Arbeit geprägten Moderne ist Zeit vorrangig die Zeit, die wir haben, um etwas zu erledigen. Handlungszeit lässt sich nach Karen Gloy unter mindestens fünf Aspekten betrachten: Konkrete Aufgaben stehen an, deren Erledigung dafür sorgt, dass wir die Ausdehnung von Zeit in einer bestimmten Weise wahrnehmen (als Vorbereitung, Hintergrund, Erfahrung, Wendepunkt, Zielrichtung). Mehrere Aufgaben sind gleichzeitig möglich, mehrere Wirklichkeitsbereiche können gleichzeitig ins Spiel kommen. Der Erledigung der Aufgabe ist eine Frist gesetzt, und die wahrgenommene (Un-)Interessantheit der Aufgabe verleiht der Handlungszeit ihre spezifische Qualität. 

Schöne Zeit vergeht schneller

Ein Beispiel für Extensionalität und Finalität ist leicht zu finden. Aufgrund des vollen Programms muss vieles sehr schnell gehen. Hartmut Rosa, der Akademieleiter, ist als profilierter Beschleunigungstheoretiker Experte für diese Frage. Als es einmal terminlich wirklich eng wird und die Kaffepause in Gefahr gerät, von anderen Terminen zerquetscht zu werden, empfiehlt er: „Ihr müsst dann eben schnell Kaffee trinken. Also einfach eingießen.“ Die Zeit für konkrete Aufgaben ist begrenzt, die Aufgabe muss rasch erledigt werden. Sonst ist es zu spät – sonst ist die zur Verfügung stehende Zeit abgelaufen.

Auch das Kursgeschehen ist betroffen von der eigenartigen Zeitverschiebung gegenüber der Außenwelt. Sechs Stunden Kurs am Tag sind eben viel, man lernt sich sehr schnell kennen, und man bewältigt eine große Menge Stoff in wenigen Tagen. Daher kann ein Kursleiter schon in der Nachmittagssitzung des ersten vollen Akademietags sagen: „Denkt mal dran, was wir da vor ein paar Tagen gesagt haben … äh … heute Morgen.“ Das Konkrete der Kursinhalte steht im Vordergrund, während physikalisch oder mathematisch feststellbare Anhaltspunkte in den Hintergrund rücken.

Umso bitterer ist die Ironie – angesichts von Volleyballturnier, Studienabend, Exkursion, Rotation, Sprachkursen, Blauer Stunde, Tanzkursen, Programmierkursen, Casinoabend, Grillabend und all den anderen Angeboten, mit denen Tage und Nächte zugepflastert sind –, wenn Fabian spät abends im Büro der Akademieleitung ganz unschuldig fragt: „Morgen ist nix, oder? Ganz normaler Tag?“ Auch der Ausnahmezustand wird normal. In jedem Fall wird deutlich: Handlungszeit hat eine Qualität, die das Zeiterleben für uns ausmacht.

Pluralität statt Sukzessivität

In der Akademiezeit als gestimmter Zeit und Handlungszeit sind wir nicht primär an der Logik der Folge von Ereignissen interessiert. Nicht die Feststellung, was zuerst und was danach geschah, ist wichtig, sondern dass vieles gleichzeitig möglich ist und umgesetzt wird.

Daher ist es vielleicht auch nicht mehr so wichtig, mit gutem Beispiel voranzugehen, weil das Wort „Vorangehen“ eine zeitliche Komponente hat, die fraglich wird. Nachdem Lorenz das Bad von Lars manipuliert hat, kippt die Stimmung im Team fast. Hartmut: „Nein, Privaträume sind wirklich tabu. Darauf müssen wir uns einfach einigen. Das sollte eigentlich klar sein. Da darf keiner einfach so reingehen beim Anderen. Obwohl ich zugeben muss, dass ich damit angefangen habe, als ich da beim Dominik im Zimmer die kleine Aktion gemacht habe.“ Gemeint war die Razzia mit der Wasserpistole. Nachts um halb vier war keiner da, der sich eines Vergehens schuldig gemacht hatte. Und so musste der bereits in seinem Zimmer schlafende Dominik dran glauben … Mal ehrlich: „Der hat angefangen!“ ist eine ziemlich bürgerliche Anschuldigung. Handlungsmöglichkeiten sind viel spannender als Sachzwänge.

Und wer hat angefangen, die ganze Schokolade zu essen? Wer ständig wach und aktiv ist, ist ununterbrochen am Essen. Außerhalb der Mahlzeiten ist vor allem Nervennahrung gefragt. Die verschwindet in rauhen Mengen. Wenn die Einkäufe schon wieder aufgebraucht sind, kommt es zu Irritationen. Akademieleitungs-Assistent Dominik beschwert sich in der Teamsitzung: „Wir haben doch gerade erst Duplo gekauft. Soooo’n Stapel!“ Seine Kollegin Roxi kontert trocken: „Naja, so viele waren das auch nicht. Und außerdem haben wir die meisten selber gegessen.“ Auch diese Handlungs- und Ereignisfolge war im Bewusstsein der Anwesenden längst hinter gemütlicher Sattheit bzw. dem Unmut, schon wieder einkaufen zu müssen, verschwunden.

Konstitution

Ein heikles Thema, das ebenfalls mit der Zeit zu tun hat, ist das Alter. Es prägt die Konstitution des Menschen, die für das Zeiterleben eine große Rolle spielt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind jung und genießen das auch, für viele Kursleiterinnen und Kursleiter gilt irgendwie noch dasselbe, aber einige sind eben, zumindest biologisch gesprochen, schon älter. Zum Beispiel Jens, der an der Braunschweiger Schule, in der die Akademie stattfindet, vor vielen, vielen Jahren einmal selbst Abitur gemacht hat.

Jens: „Als ich hier war, gab’s den Aufzug noch nicht.“

Steffen: „Und den Neubau.“

Felix: „Und Aufzüge.“

Jens grollt.

Steffen, auftrumpfend, zu Felix: „Mensch, wie langweilig wäre es, wenn wir alle gleich alt wären!“

Jens, halblaut: „Wenigstens sehen wir alle gleich alt aus.“

Mit Loriots Pappa ante portas könnte man allerdings fragen, ob ein Urgestein wie Jens nicht „von Natur aus alt“ ist. Denn immerhin erklärt er: „Ich bin früher immer aus dem Stand weiter gesprungen als mit Anlauf – da war ich immer schön erschöpft.“

Dass die Teilnehmer jünger sind, erkennt man auch daran, dass sie andere Zeiträume als lang empfinden. Zum Beispiel erklärt mir Jan beim Skat, dessen Regeln ich auch nach vielen Jahren redlichen Bemühens nicht begreife: „Ja, das ist aber auch schwierig. Das ist echt ne Frage der Erfahrung. Ich spiel das jetzt auch schon nen Monat und mach immer noch Fehler.“

Entscheidend zur Aufrechterhaltung der Konstitution – und damit eines sinnvollen Bezugs zur Zeit – ist der Schlaf. Sechs Stunden habe ich in den ersten zehn Tagen angepeilt und in der Regel auch bekommen. Am elften sehe ich beim Zubettgehen auf meinem Smartphone: „Alarm in 6 Stunden 35 Minuten“. Ich bin völlig schockiert. Sechseinhalb Stunden?! Das ist doch dekadent. Unverantwortlich. Sofort ziehe ich mich wieder an und gehe Richtung Kickertisch. Wie mir so was passieren konnte …

Wer wenig schläft, muss allerdings starke Geschütze auffahren, wenn er morgens wach werden will. Oder auffahren lassen. Zwei Zimmergenossen unterhalten sich.

Raphael: „Wann stehn wir morgen auf?“

Oskar: „Viertel vor acht.“

Raphael: „Also, dann fang ich um 7.40 an und spiel 5 Minuten Ukulele.“

Oskar: „Das reicht nicht. Du musst früher anfangen!“

Kultur

Ein Zeichen von Bildung ist das Wissen um Herkunft und Geschichte – um die Kultur, die für unser Zeiterleben eine Art Basis bildet. Gebildete Teilnehmer einer Hochbegabten-Akademie zeichnen sich durch eine langfristige und reflektierte Perspektive aus. So kann es vorkommen, dass man an einem Gespräch zwischen Teilnehmern vorbeiläuft und den Satz aufschnappt: „Und das war im frühen Mittelalter schon so!“

Dass wir auch selber in historischen Umbruchszeiten leben, ist 2017 eigentlich ein Gemeinplatz. Schön, wenn es sich an konkreten Beispielen belegen lässt.

Jens: „Die CDU in Sachsen hat sich gegen die ‚Ehe für alle‘ ausgesprochen.“

Erzürnter Teilnehmer: „Die haben doch den Arsch offen.“

Jens: „Nein, eben nicht.“

Gut, dass wir das geklärt haben.

Siderische und humane Einteilungen

Ernst Jünger An der Zeitmauer

Bisher haben wir uns mit der Zeit vor allem aus der Perspektive des erlebenden und handelnden Menschen befasst. Der ist aber eingebunden in sehr viel größere Abläufe. Ernst Jünger hat in seinem ungeheuer spannenden und viel zu selten gelesenen Buch An der Zeitmauer „siderische“ von „humanen Einteilungen“ unterschieden, also einerseits Rhythmen und Perioden, die auf Vorgänge im Weltall und in der Physis der Erde zurückgehen, und andererseits historische Epochen oder Generationen.  

Mit den Sternen beschäftigt sich Akademieleiter Hartmut Rosa gern. Die Astronomie ist eine seiner Leidenschaften. Eines Nachts kommt ein Kugelsternhaufen in den Blick. 25100 Lichtjahre entfernt! Nicht alle sind begeistert. Nicht alle begreifen so gut wie Hartmut, welch außerordentliches Spektakel sich uns darbietet. Hartmut: „‚Man sieht’n weißen Fleck‘?! Euch fehlt jede Ehrfurcht!“

Zeit und Qualität

Und da das so ist, steht man am Ende wieder am Kickertisch und lernt von Hartmut, dem Beschleunigungstheoretiker, am praktischen Beispiel, dass das Zeiterleben von der Qualität der eigenen Handlungen und der Handlungen des Anderen geprägt wird. Hartmut verliert sehr ungern (und zugegebenermaßen selten). Über den starken Gegner Lorenz schimpft er: „Der macht das nicht mit Tempo, der macht das mit Bosheit!“

Zeit zum Aufhören? Niemals!

Naja, das sind kleine Versuche, das Akademiezeitgefühl auf Begriffe zu bringen. Die in den Anekdoten geschilderten Momente sind schwer in Worte zu fassen. Worin besteht das Akademiezeitgefühl aber wirklich? Wie kommt es zustande? Wie können wir es fassen? Ich bleibe dran – vielleicht fällt mir noch mehr ein, methodisch gesprochen. Reinhard, was meinst Du?