Die sächsische Wirtschaft ist stark und wächst, aber sie leidet unter dem sich rapide verschlechternden Image des Landes, denn die Debatte darüber, wer fremd in Sachsen ist, schlägt weiter hohe Wellen. Fremdenfeindliche Angriffe, ob gewaltsam oder nicht, machen es sächsischen Unternehmen schwerer, Fachkräfte an sächsische Standorte zu ziehen. Der Verein Wirtschaft für ein weltoffenes Sachsen e.V. unter Führung von Andreas von Bismarck nimmt diese Situation als Herausforderung an und leistet sowohl Lobby- als auch Aufklärungsarbeit, und vor allem bemüht er sich um einen Kultur- und Stimmungswandel. Diesem Ziel dient auch die Veranstaltungsreihe Wirtschaft im Dialog. Am 7.11.2017 sprach ich in diesem Rahmen zum Thema Fremdheit, und mein Titel „Schluss mit der Sachlichkeit!“ enthielt schon die Forderung, einander nicht immer nur Zahlen, Argumente oder Fäuste um die Ohren zu hauen, sondern auf zwischenmenschlicher Ebene ehrlich und mutig mit Fremdheit umzugehen. Meine Kernthese: Fremdheit ist keine Eigenschaft, sondern eine Erfahrung.

Fremd in Sachsen -- Podiumsdiskussion
Von links: Guido Glinski, Christophe Fricker, Petra Köpping, Andreas von Bismarck, Alexander Ahrens

Die Veranstaltung fand bei der itelligence Outsourcing & Services GmbH in Bautzen statt. Etwa 70 Gäste erlebten einen intensiven Austausch. Dazu gehörte eine Podiumsdiskussion mit der Sächsischen Staatsministerin für Integration und Gleichstellung, Petra Köpping, dem Bautzner Oberbürgermeister Alexander Ahrens und mir. Ebenfalls auf dem Podium waren Andreas von Bismarck und Guido Glinski, Geschäftsführer der MFT Motoren- und Fahrzeugtechnik, die anschließend sehr eindringlich von ihren eigenen unternehmerischen Erfahrungen im Umgang mit Behörden und ausländischen Arbeitskräften berichteten.

Mir war es wichtig zu sagen, dass wir im gegenwärtigen, aufgeheizten Klima nicht immer nur über Kennzahlen und auch nicht immer nur über Kategorien von Menschen reden sollten. Fragen auf der zwischenmenschlichen Ebene lauten: Was ist der Unterschied zwischen „eigen“ und „fremd“? Woran merken wir das? Wodurch entsteht der Eindruck von Fremdheit, und wie gehen wir damit um? Wieviel Eigenes brauchen wir, wieviel Fremdes gibt es immer? Warum klingen „fremd in Sachsen“ und „fremd im eigenen Land“ auch für Sachsen so unterschiedlich?

In Anlehnung an den Philosophen Berhard Waldenfels habe ich diese Fragen mit acht thesenhaft zugespitzten Beobachtungen beantwortet:

  1. Niemand ist an sich fremd. Jemand ist mir fremd. Fremdheit ist keine Eigenschaft eines anderen Menschen, sondern eine Erfahrung, die ich mache.
  2. Das bedeutet, dass Fremdheit nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit beruht. Wer mir fremd vorkommt, kann mich für normal, unauffällig, vertraut halten.
  3. Kein Mensch ist nur das, was uns fremd vorkommt.
  4. Das erste, was wir tun, wenn uns etwas fremd vorkommt, ist antworten. Redend, handelnd, grüßend, spuckend, schweigend, wie auch immer. Ich kann gar nicht nicht antworten. Das heißt: Ich handele nachträglich, aber ich kann etwas tun. Ich antworte immer. So oder so.
  5. Diese Antwort ist kein Vergleich. Vergleichen kann ich erst später. Dann tue ich so, als wäre ich eine unabhängige Instanz, die sagt: Ich mache das so, der macht das so. Ich bin so, der ist so. Ich schaue wie von außen auf mich, und ich distanziere mich von meiner eigenen Erfahrung. Wer in einem bestimmten Moment vergleicht, der antwortet nicht, und wer antwortet, der vergleicht nicht.
  6. Das bedeutet: Der Umgang mit Fremdheit hat im Kern wenig mit Informationen zu tun und viel mit Situationen. Ich kann ganz viel über jemanden wissen und ihm trotzdem Gewalt antun. Ich kann ganz wenig über jemanden wissen und trotzdem freundlich grüßen. Verständigung ist mehr als Kenntnisnahme.
  7. In der Antwort auf die Erfahrung der Fremdheit lernen wir auch etwas über uns selbst. Ich definiere mich neu, ich definiere mich genauer. Ich entdecke neue Seiten an mir.
  8. „Zur Erfahrung des Fremden gehört eine Fremdwerdung der eigenen Erfahrung“, die ihre Selbstverständlichkeit verliert. Insofern ist Fremdheit – die Freiheit, so oder so zu antworten – unbequem. Sie erinnert uns daran, dass wir nicht tot sind – nicht im Himmel und nicht in der Hölle. Noch nicht fertig. Handlungsfähig. In einem Raum, den wir gestalten können. Das ist Ethik, nicht Politik. Menschlichkeit, nicht Sachlichkeit.

Leseempfehlung zum Thema: Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden (Studien zur Phänomenologie des Fremden 1), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997.

Gespräche zum Thema: Ich freue mich darauf!