Am 15. August 2015 wurde der Soziologe und leidenschaftliche Pädagoge Hartmut Rosa 50 Jahre alt. Der Autor der Theorie der sozialen Beschleunigung und der darauf aufbauenden Resonanztheorie leitet seit zwei Jahrzehnten eine Akademie im Rahmen der Deutschen Schülerakademie. Rosa begreift die DSA (in Braunschweig) als einen Resonanzraum. In meiner kleinen Lobrede zu Rosas 50. Geburtstag untersuche ich, warum das gerechtfertigt sein mag.

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Ich will auch deshalb diese kleine Lobrede auf Hartmut Rosa halten, weil man es sich mit ihm nicht zu einfach machen darf. Immerhin wird er auch selbst von den großen Fragen des Lebens angezogen, immerhin kommt er nicht nur von der widerspruchsfreudigen Frankfurter Schule her, sondern auch von der schwierigen Romantik, sogar der idealistischen Jenaer Gemeinschaftlichkeit, und wer so ein Herkommen hat und wer daran seinen Blick in die Gegenwart schult, für den gibt es keine Wahrheit ohne Ironie, keine Innigkeit ohne Widersprüche.

Wagen wir also eine Lobrede auch mit Blick auf scheinbare Widersprüche. Vielleicht lösen sich einige auf.

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Treffen wir uns draußen. Dreiundzwanzig Jugendliche stehen vor einem Altenheim. In kleinen Gruppen, im Gespräch, in der Sonne. Ein dutzend andere sind in das Altenheim ausgeschwärmt, paarweise. Jeweils einer hat einen Zettel in der Hand. Nach einiger Zeit kommen sie zurück. Im Schlepptau haben sie angespannte Herrschaften, deren Namen auf den Zetteln stehen. Die Hilfsbedürftigkeit der Damen und Herren verhindert, dass sie sich Geltung gegenüber ihren sanften, tatenfrohen Abholern verschaffen können. Sie sehen sich vor der Tür des Altenheims den vielen kraftstrotzenden Jugendlichen gegenüber. Hochbegabte stellen Hochbetagte in den Schatten. Oder besser: in ein neues Licht.

Heute Morgen hat Hartmut zwölf Freiwillige gesucht. Über dreißig meldeten sich gleich, sie alle sind jetzt hier versammelt.

Hartmut hätte heute Morgen keinem gesagt: Komm nicht.

Und deshalb wäre es keinem der Jugendlichen eingefallen, nicht zu erscheinen.

Nun machen sie sich auf den Weg. Einige hundert Meter weiter findet das Konzert statt, zu dem die Jugendlichen die Senioren begleiten. Akademieteilnehmer werden für Altenheimbewohner spielen, unter anderem. Schritt für Schritt geht es vorwärts, eine mehrspurige Straße ist zu überqueren. Die wenigen Autos bleiben am Zebrastreifen lange stehen.

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Beschleunigung ist das Problem. Beschleunigung ist Moderne, Protestantismus, Kapitalismus, Technologie, Ambition, Schlaflosigkeit. Beschleunigung sind Menschen, die mit ihren Freunden Kalender statt Gedichte lesen.

Hartmut Rosa Beschleunigung

Die Moderne ist mit ihren eigenen Mitteln nicht aufzuhalten. Dafür ist sie viel zu gut darin, alles zu ihren eigenen Mitteln zu machen. Die Moderne ist der Verzicht auf die Mittellosigkeit.

Wer sich aus den Zwängen der Beschleunigung befreien will, muss aufhören, sich Sorgen um seine Geschwindigkeit zu machen.

Hartmut ist der mit der Beschleunigung. Das weiß in Deutschland jeder. Das weiß auch bei der Akademie in Braunschweig jeder. Hartmut sagt: Das Problematische an den Zwängen der Beschleunigung ist nicht die Beschleunigung, sondern das Zwanghafte. Beschleunigung gibt es immerhin schon bei Schumann: So rasch wie möglich – schneller – noch schneller. So lautet die Spielanweisung einer Sonate. Und wer wollte Schumann einen Strick daraus drehen?

Dass Hartmut so rasch wie möglich spricht und dann schneller und dann noch schneller, das ist offenbar ein Widerspruch. Es ist aber keiner (das merkt man allerdings nur, wenn man erst einmal davon ausgeht, dass es doch einer ist). Hartmut spricht schnell, weil er es eilig hat, aus dem Zwanghaften der Moderne zu entfliehen. Warum so schnell, fragte man 2007 auch Barack Obama. „We cannot wait“, war die messianische Antwort: „Wir können es uns nicht leisten zu warten. Wir können es nicht erwarten, die Brutalität der Bush-Jahre hinter uns zu lassen.“

Am Morgen des Wahltags im November 2008 schon herrschte auf den Straßen Volksfeststimmung. Abends lagen wir uns weinend in den Armen. Am nächsten Tag gab es in der Mensa spontane Gospel-Gesänge. Wir wurden enttäuscht. Wer vom Heil auf Erden träumt, muss enttäuscht werden, wenn er damit politische Hoffnungen verknüpft. Wer den Kampf gegen die Beschleunigung aufnimmt und sich mit der Moderne anlegt, kann enttäuscht werden.

Damit sind wir wieder bei Hartmut. Er weiß: Der Ausweg aus der Beschleunigung führt eben nicht über die Politik. Die Welt nicht verändern, aber sich, das ist viel, schrieb einst Ernst Jünger in einem der klassischen Aussteiger-Bücher, dem Waldgang. Dem Freund zu helfen, im dumpfen Alltag das „sonne-walten“ wieder zu spüren, viel mehr kann keiner von sich erwarten. Aber zumindest das sollte man sich vornehmen. Zumal Stefan Georges Wort „sonne-walten“ so schön ist!

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In der Kirche, vor dem Konzert, hält Hartmut eine Rede. Sie ist viel länger, als das Publikum erwartet hat. Viel länger als die üblichen Reden vor einem Konzert. Hartmut erklärt, warum es wichtig ist, dass Hochbegabte gefördert werden. Wer sieht, wie sehr sie sich in zweieinhalb Akademiewochen verändern, wird ihm ohne Weiteres zustimmen. Ohne Akademie hätten sie sich nicht so entwickelt, hätte der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit etwas im Weg gestanden. Häme, Langeweile, Selbstüberschätzung.

Hartmut macht seit vielen Jahren Akademie. Das heißt auch: Er arbeitet mit der Moderne, deren Beschleunigung er kritisiert. Inbegriff der Moderne ist neben der Beschleunigung die Bürokratie. Die Institution. Die Anstalt. Sie agiert ohne Ansehen der Person. Daraus gewinnt sie ihre Effizienz. So lassen sich jahraus, jahrein Akademien organisieren.

Was gern übersehen wird: Im Agieren ohne Ansehen der Person liegt auch die Begrenztheit der Bürokratie. Denn die Personen sind ja da. Sie warten nur darauf, angesehen zu werden. Sie schauen sich um, sobald sie in Braunschweig angekommen sind, ob sie da nicht einer ansieht. Das kann geschehen. Der Philosoph Emmanuel Levinas schreibt davon, der Dichter Stefan George schreibt davon, beide ganz unterschiedlich. Sie schreiben vom offenen Blick. Wenn zwei Menschen einander ansehen, bleibt die Bürokratie außen vor. Die Bürokratie sagt zu niemandem Du.

Hartmut sagt Du. Hartmut reagiert nicht, wenn man ihn nicht duzt, auf der Akademie.

Er weiß auch, dass das eine Ausnahmesituation ist. Nur der konventionelle Bürger meint, man gehe vom Sie zum Du über. Das Gegenteil ist der Fall: Wir duzen einander einen Augenblick lang, und im Alltag dann, in dem es Institutionen gibt und wir uns messen lassen, agieren wir wieder ohne Ansehen der Person. Hartmut sagt Du, spricht sehr schnell und lacht sich dabei noch ins Fäustchen.

Die Moderne ist, so erklärt uns Bernhard Waldenfels, auch ein Philosoph, der Kampf um die Frage, wer „Wir“ sagen darf. Der Kampf gegen die Moderne ist also wohl gewonnen, wenn ich ganz einfach Du sagen darf.

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Nach dem Konzert sitzen wir noch zusammen. Es ist inzwischen längst 2 Uhr nachts. Fettverschmierte, leere Teller und Schüsseln stehen zwischen uns. Wurstscheiben, Gürkchen, Nudelsalat – wir sind mit allem fertig. Lasst sie doch Kuchen essen, lautete die Devise des erschöpften Absolutismus. Lasst uns doch Kuchen essen, lautete die Devise des Klassenkampfs, des linken von unten wie des rechten von oben. Lasst uns noch ein wenig hier sitzen, beschließen wir, auch ohne Kuchen. Aber wir haben eben doch schon wieder Hunger.

Eine Pizza um 2 Uhr nachts, das ist in Braunschweig nicht zu machen. Wir maulen vor uns hin, eher aus moderner Gewohnheit als aus wirklich schlechter Laune. Hartmut holt sich die Autoschlüssel und fährt los. Er weiß, wo eine Tankstelle ist. Nach einer halben Stunde kommt er wieder, mit zwei Kisten voller Schokoriegel, Chipstüten, Gummibären. Er legt die Autoschlüssel zurück ins Büro und kickert weiter. Sein Mitspieler liegt inzwischen hinten, fast aussichtslos.

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JCD Braunschweig DSA 2015

Hartmut zieht seine Energie aus Menschen, die nicht müde werden. Und wenn sie doch müde werden, zieht er seine Energie daraus, dass sie müde werden und er nicht. Im Gegensatz zu den kraftstrotzenden Jugendlichen, die man doch einmal die Augen schließen sieht, nämlich im Unterrichtsgespräch des drittletzten Akademie-Tags (aber auch dann nur ganz kurz natürlich), hat Hartmut die Augen weit offen. Allgemeine und theoretische Soziologie – das mag schon sein; aber konkrete und praktische Akademie eben auch. Vom „transzendentalen Miserabilismus“, wie die Frankfurter Schule von ihren beschleunigungsfanatischen, neomarxistischen Verächtern genannt wird, ist bei ihm nicht allzu viel zu spüren.

Aber Hartmut macht sich Sorgen um Menschen, die müde werden. Jugendliche auf der Schülerakademie schlafen ungern. Sie wollen auch am vorletzten Tag noch abends um 10 Uhr Ceilidh tanzen und danach chinesische Schriftzeichen lernen, ein Beethoven-Trio spielen, auf einem Bein tanzen und gleichzeitig einen Zauberwürfel lösen, die Ukraine-Krise debattieren und, na ja, mit Hartmut kickern. Hartmut lacht sich ins Fäustchen, alles läuft wie am Schnürchen, aber er macht sich doch ein bisschen Sorgen. „Wir müssen die 23-Uhr-Schiene entlasten“, sagt er ernst.

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Den Tonfall kennt man: „Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ Oder: „Ich hab dir das schon tausendmal gesagt!“ Oder: „Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ So was sagt Hartmut natürlich nicht. Hartmut sagt, im selben Tonfall: „Leistung und Wettbewerb.“

Und lacht sich ins Fäustchen. „Leistung und Wettbewerb.“

Wenn Hartmut sich ins Fäustchen lacht, schaut er sich hektisch um, das Fäustchen ist ein sprichwörtliches, und auch um ein Lachen handelt es sich eigentlich nicht. Eher um ein Kichern, eines mit vielen Konsonanten.

„Leistung und Wettbewerb“ ist Hartmuts Kurzformel für die Welt da draußen. Beschleunigung, Kapitalismus, Schlaflosigkeit. Machbarkeitsstudien, Abbrecherquoten, Vorfälligkeitsentschädigungszahlungen. Siebzehn Tage und Nächte, ein Sommer in Braunschweig, das wärmt von innen. Einklang im Freiraum. Nur, gegen Pathos hat Hartmut was. Wer zu sehr ins Schwärmen kommt und immer noch weitere schöne Pläne schmiedet, hört Zustimmung von Hartmut, gefolgt von einer Mahnung, in strengem Tonfall: „Aber dann ist wieder Leistung und Wettbewerb!“

Und natürlich lacht er sich dann ins Fäustchen.

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Sogar im Nebenraum sieht man es. Unten auf dem Boden des hellen Stillarbeitszimmers, auf der anderen Seite der Bibliothek. Bücher stehen hier eigentlich nicht, nur ein großer Tisch. Aber unten auf dem Boden steht eine große Kiste mit Büchern, sechs oder sieben verschiedene Titel. Jeder ist allerdings dutzendweise vorhanden, also ist es eine ganze Menge Bücher.

Suhrkamp, Suhrkamp, Suhrkamp. Hartmut Rosa, Hartmut Rosa, Hartmut Rosa. Scheine und Münzen im Pappkarton daneben. Hier sieht man es: Hartmut ist klug.

Klug ist er nicht, weil er viele Bücher schreibt. Schön ist man auch nicht, wenn man viel Feuchtigkeitscreme benutzt. Wie erkennt man eine schöne Frau? Der karibische Lyriker Derek Walcott braucht vier Wörter, um zu sagen, dass eine Frau schön ist: „Women studied her beauty.“ Um die Klugheit des Suhrkamp-Autors Hartmut Rosa zu beschreiben, braucht man genauso wenig Wörter: Jugendliche kaufen seine Bücher. Freiwillig!

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DSA Braunschweig 2015

War eben von „Einklang“ die Rede? Hartmut spricht von „Resonanz“, vom Widerhall – nicht vom Echo, sondern vom Angesprochensein, vom Ergriffensein, von der Einmütigkeit. (Welches Wort das Richtige ist, muss man abwarten – die Resonanztheorie ist noch nicht fertig!) Einmütigkeit jedenfalls ist immer nur vorübergehend, denn jeder Mensch ist anders. Sie ist immer ein schöner Traum, aber als solcher kann sie zur Grundlage einer Haltung und eines Verhaltens dem anderen Menschen gegenüber werden. Resonanz, sagt Hartmut, ist das Gegenmodell zur Beschleunigung. Und auf der Akademie ist zu beobachten, wie junge Menschen unvoreigenommen aufeinander zugehen, einander grüßen, wie sie nicht hämisch kommentieren, was der Eine weiß und der Andere nicht. Häme zerstört den Resonanzraum. Sie ist ein „Resonanzkiller“, wie Hartmut das nennt.

Wer jetzt meint, Hartmut sage den ganzen Tag lang nur Nettes, liegt daneben. Das fällt einem auf, wenn man lange in Amerika und in England unterrichtet hat, wo das Lob so sehr zum pädagogischen Rüstzeug gehört, dass man jede Kritik in ein solches verpacken muss. In Deutschland gilt eher: Nicht gemeckert ist genug gelobt.

Hartmut lobt nicht viel, nicht explizit. Er macht zwar auch keine hämischen Kommentare. Aber er sagt vieles, was sich erst einmal wie Gemecker anhört. Und lacht sich ins Fäustchen. Dann wird klar: Hartmuts Meckern und Hartmuts Warnung vor dem Resonanzkiller sind kein Widerspruch. Hartmut ist ein umgekehrter Engländer: Er nimmt sein Gegenüber aufs Korn, aber zwischen den Ähren dieser manchmal schon ziemlich beeindruckenden Getreidemengen verbirgt sich ein Lob. Oder, was noch viel mehr ist, Anerkennung.

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„Ein Sommer in Braunschweig“ lautet die erste Zeile der Akademie-Hymne, gesungen auf die Melodie von „An Tagen wie diesen“. Und dann geht es weiter: „Das wird ne Wahnsinnszeit“. Wahnsinnszeit reimt sich auf bereit, die Hymne ist voller freudiger Erwartung. Verheißungsvoll. Und Tage wie diese und ein Sommer wie dieser lösen das Versprechen ein, ohne es ganz abzugelten. Der Blick bleibt auch am vorletzten Tag noch voraus in die Gegenwart gerichtet.

„Das wird ne Wahnsinnszeit“, fast lullt uns diese Verheißung ein. Bis am letzten Tag, wenn noch keiner es wahrhaben will und viele noch nicht gepackt und noch nicht aufgeräumt haben, die Kursleiter singen müssen: „Ein Sommer in Braunschweig … ist jetzt Vergangenheit“. Wie ein Gottesurteil trifft dieses Wort die jugendlichen Hörer ins Mark.

Eine Zeit zu bleiben und eine Zeit zu gehen. Hartmut spricht es aus: Die Akademie ist zuende, ihr müsst gehen, es ist vorbei. Es war schön, gleich kommen eure Eltern. So wie jetzt wird es nie wieder sein. Nie wieder. Tränen fließen, auch aus den Augen jener besonders gern kraftstrotzenden Jugendlichen.

Draußen kommt es noch dicker: Klezmer am Tor. Gebt eure Namensschilder ab. Keiner sagt es, vielleicht muss man es ihnen auch nicht sagen: Meldet euch mal bei Hartmut. Sagt ihm, wie dankbar ihr ihm seid.